Zum rekonstruierten Finalsatz von Bruckners Neunter

„… und wenn er ihn vollendet hätte?“

Prolog

Es ist ein Thema, das in der Welt der Musik fast schon metaphysische Dimensionen hat: Wie umgehen mit einem unvollendeten Werk, das sich an der Schwelle zu den „letzten Dingen“ bewegt? Bruckners Neunte ist nicht nur seine letzte Sinfonie – sie ist sein Vermächtnis, sein Abschied, sein Blick ins Offene.

Dass ausgerechnet der Finalsatz, der die sinfonische Architektur vollenden sollte, Fragment blieb, hat viele Jahrzehnte lang Raum für Spekulation, Forschung und Sehnsucht gelassen. Und so ist es kein Wunder, dass die rekonstruierte Fassung dieses Satzes so leidenschaftlich begrüßt wie kontrovers diskutiert wurde.

Mir ist wichtig, dazu – subjektiv, aber nicht willkürlich – Stellung zu beziehen. Denn je mehr ich mich mit dieser Musik beschäftigt habe, desto klarer ist mir geworden: Es geht hier nicht nur um Editionsfragen oder Aufführungspraxis. Es geht um die Frage, wie weit wir der Musik entgegengehen dürfen – und wo wir ihr besser mit ehrfürchtiger Zurückhaltung begegnen sollten.

Gedanken

Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich hörte, dass ein Team um Gerd Schaller, John A. Phillips und Benjamin-Gunnar Cohrs den vierten Satz von Bruckners Neunter Sinfonie rekonstruiert hatte (wobei Rekonstruktion angesichts der großen Lücken im überlieferten Material nicht so ganz treffend ist). Ein Moment der Begeisterung: Endlich, nach so vielen Jahrzehnten der Fragmente, Skizzen, Bruchstücke – nun ein vollständiges Werk? Die Aufführung mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern war dann ein Meilenstein: engagiert, packend, imposant. Ich war beeindruckt. Und doch blieb eine leise Irritation zurück.

Diese Irritation ist über die Jahre gewachsen – nicht, weil ich die Arbeit des Rekonstruktionsteams nicht wertschätzen würde. Im Gegenteil: Die editorische Akribie, das musikgeschichtliche Fingerspitzengefühl, das tiefe Verständnis für Bruckners Sprache – all das verdient Respekt. Aber je öfter ich die rekonstruierte Fassung hörte, desto mehr hatte ich das Gefühl: Das ist nicht das, was Bruckner geschrieben hätte.

Es ist wohl eher das, was möglich war – unter den gegebenen Umständen, mit den vorliegenden Skizzen. Aber eben nicht das, was aus Bruckners eigener kompositorischer Phantasie noch hätte werden können.

Denn es sind nicht nur die zahlreichen Lücken im Material, die uns zu denken geben sollten. Es ist auch die Frage nach der Richtung, in die sich Bruckners Musik entwickelte. Der vierte Satz wirkt in der Rekonstruktion manchmal wie ein Rückblick – in der großen Fuge höre ich immer wieder die Fünfte Sinfonie durchscheinen, in den Kontrapunktlinien, in der Statuarik. Das ist groß, ja. Aber es klingt für mich nicht nach einem letzten, entscheidenden Schritt nach vorn – nicht nach einem „Abschied von der Welt“, wie das oft behauptet wird, sondern eher nach einem konzilianten Rückgriff.

Ein entscheidender Moment für mein eigenes Hören war das sogenannte Werkstattkonzert unter Nikolaus Harnoncourt mit den Wiener Philharmonikern. Dort wurden – nach einer vollständigen Aufführung der ersten drei Sätze und einer sehr angemessenen Pause – Fragmente des unvollendeten Finalsatzes aufgeführt – nicht glattgebügelt, nicht ergänzt, sondern als das präsentiert, was sie sind: leuchtende Reste, klangliche Bruchstücke, musikalische Fundamentlegungen von Bruckners Hand. Harnoncourt nannte diesen Teil des Konzerts: „Wie ein Stein vom Mond.“ Und das trifft es.

Diese Musik schien wie aus einer anderen Welt, fremd und vertraut zugleich, nicht von dieser Erde – und gerade darin so aufregend. Für mich war das eine Ahnung dessen, was noch möglich gewesen wäre, wenn Bruckner selbst den Satz vollendet hätte. Und diese Ahnung stellt – zumindest für mich – die schön, beinahe genial rekonstruierte, aber doch spürbar rückwärtsgewandte Fassung ein wenig in den Schatten. Ab und zu einmal die Fragmente in Harnoncourts Präsentation anzuhören, sei erlaubt. Sie genügen für den Blick ins Licht.

Manches bleibt Fragment – aber nicht jeder Marmorblock braucht ein Standbild.

Epilog

Es bleibt ein Gedanke, der sich nicht abschütteln lässt: Dass Bruckner, während er am Rande seiner Kräfte seine Linzer Sinfonie – die Erste! – revidierte, schon Skizzen, Particelle, ganze Abschnitte eines Finales der Neunten aufgeschrieben hatte – und dass ein Teil davon, unbedacht, von Besuchern des Sterbezimmers, weniger böswillig als aus einem damaligen Verständnis von Pietät, entwendet und verstreut wurde – wie Asche, die sich dem Wind anvertraut. Die Vorstellung ist kaum zu ertragen, und doch nicht auszuschließen, dass der größte Teil des verlorengegangenen Restes auf Wiener Dachböden verborgen ist.

Aber vielleicht ist gerade in dieser Lücke, diesem Verlust, dieser offenen Stelle, ein letzter Reflex des Transzendenten enthalten, das Bruckners Musik immer suchte: das Unerreichbare, das Entzogene – nicht als Mangel, sondern als Mahnung.

Denn Bruckners Finale, so wie wir es haben – fragmentarisch, rekonstruiert, oder als hingenommene Leerstelle – bleibt ein Klang-Raum, der uns auffordert, mitzugehen. Nicht als Vollender, sondern als Hörende. Als Fragende. Die Leerstelle ist nicht Leere – sie ist ein letzter Raum, den Bruckner offenließ. Vielleicht wissend, dass Musik sich nie vollständig sagen, sich absolut vollenden kann. Und dass das Größte manchmal das ist, was uns fehlt.

Vielleicht bleibt dies das größte Vermächtnis Bruckners: Dass selbst seine Fragmente noch auf ein Ganzes verweisen, das größer ist als jedes Vollendete.


Veröffentlicht am 08.06.2025 von UdoEn

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