Schuberts „Unvollendete“ – Vollendung aus dem Urgrund

Prolog

Es war eine Epoche der Lagerbildung: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rangen die sogenannten „Neudeutschen“ um Franz Liszt und Richard Wagner mit den „Konservativen“ um Brahms und Hanslick um die Vorherrschaft in der Deutung der Musikgeschichte und der künftigen Richtung der Musikästhetik. Und doch: Beide Seiten reklamierten ein und dasselbe Werk für sich – Franz Schuberts „Unvollendete“.

Die einen sahen in ihr ein Meisterwerk absoluter Musik, aus sich selbst sprechend, ohne jedes Programm. Die anderen deuteten sie als Inbegriff romantischen Ausdrucks, seelenvoll, subjektiv, über sich hinausweisend. Dass sie beiden Positionen zugleich Nahrung gibt – ohne je eine eindeutig zu bestätigen – ist der beste Beleg für ihre Größe.

Unvollendet vollendet

Es gibt Werke, die wirken wie ein in sich ruhender Kosmos, obwohl sie fragmentarisch geblieben sind – und gerade deshalb. Schuberts „Unvollendete“, die beiden Sätze in h-Moll, gehören zweifellos zu diesen Ausnahmen. Kein anderes Werk wird so selbstverständlich unter den großen vollendeten Sinfonien der Musikgeschichte geführt, obwohl es – seinem Namen nach – eben nicht abgeschlossen wurde. Und bei keinem anderen Werk erscheint dies weniger als Mangel, sondern fast als Geste des Geheimnisses.

Meine erste wirkliche Begegnung mit diesem Werk war eine, die ich bis heute erinnere wie eine Initiation: Ich war 15, es war das Eröffnungskonzert des Glyndebourne Festivals – und am Pult stand Benjamin Britten. Er dirigierte mit jener geradezu analytischen Ruhe, die er in seinen Interpretationen kultivierte. Kein überhitztes Pathos, kein Auswalzen der eruptiven Momente – sondern ein innerlich leuchtendes, fast kammermusikalisches Verstehen. Ich weiß noch, dass mich das Werk seitdem nicht mehr losließ. Gleich der Anfang schlug mich völlig in seinen Bann.

Später erkannte ich, wie stark Schuberts „Unvollendete“ in einem Spannungsfeld steht, das weit über sie hinausweist: rückblickend zum Beethovenschen Impuls, prospektiv zu Bruckner und Mahler. Ihre Klangsprache ist romantisch, ihre Form ist klassisch – aber ihre seelische Tiefenschichtung ist modern. Sie nimmt Entwicklungen vorweg, die erst Jahrzehnte später in der Musikgeschichte Gestalt gewinnen. Und sie unterläuft mit stiller Autorität den scheinbar so scharfen Gegensatz zwischen absoluter und programmatischer Musik, der später so viele Grabenkämpfe entfesseln sollte. Wer Bruckner kennt, hört das. Wer Mahler kennt, erst recht.

Vielleicht ist die „Unvollendete“ das reinste Beispiel für Musik „aus dem Urgrund“. Ihr Beginn schält sich fast wie aus dem Nichts heraus, wie aus einer Tiefe jenseits der Form, jenseits jeder Konstruktion. Und doch ist alles durchgearbeitet – nichts bleibt vage. Dass ein junger Mann, unter Bedingungen fast ständiger existenzieller Unsicherheit, ein solches Werk hervorbringt, gehört zu den Rätseln künstlerischer Schöpfung, die uns immer demütig machen.

Und die Vollendung? Sie liegt in der inneren Logik der beiden Sätze, in ihrer aufeinander bezogenen Architektur, in ihrer Spannungsbalance. Man könnte die Reihenfolge der Sätze theoretisch sogar umkehren – die organische Verbindung bliebe bestehen. Diese Musik hat kein „Ende“, weil sie als Ganzes in sich ruht. Sie behauptet keinen Abschluss, sondern offenbart eine Form der Geschlossenheit, die keine weiteren Sätze mehr braucht. Vielleicht ist das der wahre Grund, warum sich wohl kaum jemand eine überzeugende Fortsetzung vorstellen kann – es wäre ein Übermaß.

Wer diese Musik hört und ihre „Vollendung“ nicht als Mangel, sondern als höhere Form der Ganzheit empfindet, hat etwas Grundlegendes über Musik verstanden. Und vielleicht auch ein wenig über das, was künstlerische Tiefe jenseits von Absicht bedeutet.

Epilog

Vielleicht liegt das Faszinierendste an der „Unvollendeten“ darin, dass sie – obgleich formal ein Torso – in sich vollkommener wirkt als viele Werke mit vier Sätzen. Sie braucht keinen versöhnenden Schluss, kein glänzendes Finale, kein „Erklären“ ihres Ausdrucks. Ihre Tiefe ist unscheinbar und darum umso durchdringender.

Es ist gut möglich, dass Schubert den dritten Satz nur skizzierte, weil er spürte, dass diese beiden Sätze schon mehr sagen, als eine vollständige Form mit einem dritten und vierten Satz insgesamt hätte erreichen können. Dass eine formale Vollendung nach den Regeln der Kunst womöglich eine Beeinträchtigung gewesen wäre. Ich persönlich halte das für wahrscheinlich – aber das ist rein subjektiv. Wir wissen es nicht.

Aber wie auch immer: Für uns heutige Hörerinnen und Hörer bleibt diese Musik eine Ahnung des Ganzen im Fragment. Wer in ihr keine Unvollständigkeit mehr empfindet, hat etwas Wesentliches verstanden – über Schubert, über Musik, und vielleicht sogar über das, was wir unter „Vollendung“ eigentlich verstehen.


Veröffentlicht am 08.06.2025 von UdoEn

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