„Es gibt keine Interpretationen“ – Eine Annäherung an Sergiu Celibidache (1)


Künstlerische Darstellung von Microsoft Copilot

Wenn von Sergiu Celibidache die Rede ist, dann oft mit Superlativen: der große Dirigent, der kompromisslose Klanggestalter, der metaphysische Musiker. Doch wer ihn erlebt hat — in Proben, in Konzerten, im Gespräch, in der Arbeit mit jungen Musikern — weiß, dass all diese Zuschreibungen ihm nicht gerecht werden. Denn Celibidache war vor allem eines: ein großer Dienender. Nicht dem Publikum, nicht dem Ruhm, sondern der Musik selbst.

„Es gibt keine Interpretationen“, pflegte er zu sagen, wenn man ihn für seine Lesart eines Werkes lobte. Was er meinte, war keine Koketterie, sondern ein Prinzip: Musik ist kein Vehikel für persönliche Ausdrucksbedürfnisse, sondern ein Raum, in dem sich die wahrscheinliche Absicht des Komponisten entfalten soll — so präzise, so umfassend, so durchdrungen wie möglich – und womöglich sogar darüber hinaus.

Celibidache suchte nicht nach Wirkung, sondern nach Erkenntnis im Klang. Seine Proben waren Meditationen über Struktur, Zeit, Raum und Energie. Er sprach von „Phänomenologie der Musik“, nicht als Theorie, sondern als Praxis: Wie entsteht Klang? Wie vergeht er? Wie wirkt er im Raum? Und wie kann man ihn so gestalten, dass er nicht nur gehört, sondern verstanden wird?

Er lehnte Tonträger ab, weil sie den Moment fixieren, den Klang aus dem Raum reißen. Musik war für ihn Erfahrung, nicht Produkt. Und so wurde jedes Konzert zu einem Ereignis, das nicht wiederholbar war — weil es nicht reproduzierbar sein sollte.

Wer Celibidache erlebt hat, weiß: Es ging nie um ihn. Es ging um Bruckner, um Debussy, um Mozart. Um das, was in der Partitur angelegt ist — und was sich nur dann zeigt, wenn man bereit ist, sich selbst zurückzunehmen. Nicht als Verzicht, sondern als Voraussetzung für Tiefe.

Vielleicht ist das heute schwer vermittelbar. Vielleicht ist es gerade deshalb so kostbar. Und vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder einmal zu erinnern: an einen Musiker, der nicht interpretierte, sondern diente — und darin größer war als viele, die sich selbst ins Zentrum stellen.


Die „zähen Tempi“ und das Klangbild als Maß

Immer wieder hielten Kritiker Celibidache einen vorgeblichen Mangel vor, der fast zum Klischee wurde: seine Tempi seien zu langsam, besonders bei Bruckner. Ich konnte das nie nachvollziehen — denn ich höre Musik, ich messe sie nicht mit dem Metronom neben dem Plattenspieler. Für Celibidache war die Zeit nicht eine starre Maßeinheit, sondern eine Dimension des Klangs, die sich aus dem Klangbild selbst ergab.

Er betonte stets, dass das Tempo nicht beliebig, aber eben auch nicht mechanisch festgelegt sei. Entscheidend sei der Ausdruck — jene innere Notwendigkeit, die sich nur in einem bestimmten Tempo authentisch entfalten kann. Der Atem der Musik. Wenn es dazu einer „Modifikation“ des Tempos bedarf, dann ist das kein Makel, sondern eine Konsequenz der Musik selbst.

Und dennoch las man unablässig von zu langsamen Tempi bei Celibidache — ein Missverständnis, das wohl daraus resultiert, dass viele den Klang nur metrisch begreifen, nicht als lebendiges, fließendes Phänomen. Bei ihm aber war das Tempo eine Antwort auf den Klang, nicht dessen Diktat.


Vom Metronom und der Illusion der Präzision

Das Metronom ist eine späte Erfindung — und längst nicht von allen Komponisten goutiert worden. Beethoven, der es in Zeiten seiner Taubheit als Hilfe nutzte, war einer der ersten, die es überhaupt verwendeten. Und selbst er gab nicht durchgängig Zählzeiten in seinen Partituren an. Denn Musik ist mehr als Zählmaß. Sie ist Bewegung, Spannung, Atmung — und nicht zuletzt Ausdruck.

Celibidache hätte dem Metronom nie die Autorität über das Tempo eingeräumt. Für ihn ergab sich das Tempo aus dem Klangbild, nicht aus der Zahl. Und das ist kein Relativismus, sondern eine Konsequenz aus der Struktur der Musik selbst. Der Ausdruck ist das Maß — nicht die Maschine.

Ich selbst bin der Ansicht, dass man bei Musikschülern sehr vorsichtig mit dem Metronom umgehen sollte. Es kann helfen, ja — aber es kann auch den lebendigen Puls der Musik ersticken. Wer nur auf das Zeitmaß achtet, verliert den Sinn für die innere Bewegung. Und wer glaubt, Musik sei dann „richtig“, wenn sie im Takt ist, hat sie noch nicht gehört.


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