
Wenn ein Herbert Blomstedt – fast 98-jährig – in Wismar die Eröffnung des Musikfestivals Mecklenburg-Vorpommern dirigiert, dann ist das nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern auch ein stiller Triumph der Beständigkeit. In einem Interview am Rande der Aufführung bemerkte die Moderatorin, Blomstedt wähle inzwischen nur noch Werke, die ihm ganz besonders am Herzen lägen. Und ja, er wird sicherlich längst die Autorität besitzen, den Veranstaltern genau das Programm zu diktieren, das ihm entspricht. Doch das ist nicht der Punkt. Es geht um etwas Tieferes: Die späte Entscheidung für das Wesentliche.
Mit fortschreitendem Alter wird es für Dirigenten – wie für alle Musiker – schwerer, sich neues Repertoire zu erschließen. Das liegt nicht nur an der physischen Anstrengung oder an kognitiven Hürden, sondern vor allem an der Reife des musikalischen Bewusstseins. Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung, des Scheiterns, Ringens und Gelingens, formt sich etwas heraus, das ich eine „musikalische Seelenverwandtschaft“ nennen möchte. Man erkennt, welche Werke einen wirklich zutiefst berühren, fordern, erfüllen – und welche nicht (ohne letztere abzuwerten). Das gilt auch für mich als engagierten Musikenthusiasten.
Carlos Kleiber war ein solcher Fall – auf extreme Weise. Schon zu seinen besten Zeiten ein Dirigent mit rarer Präsenz, wurde er im Alter nahezu unsichtbar. Sein Repertoire schrumpfte auf ein Minimum. Doch das hatte nichts mit Erschöpfung zu tun, sondern mit künstlerischer Konsequenz. Kleiber rang mit dem musikalischen Ideal wie kaum ein anderer. Seine Aufnahme der Vierten von Brahms mit den Wiener Philharmonikern ist für mich ein Beispiel einer musikalischen Transzendenz: nicht im religiösen Sinne, sondern als völlige Aufhebung des Spielerischen, des Routinierten. Es ist Musik, wie sie gemeint ist – absolut, kompromisslos, jenseits jeder Interpretation.
Doch diese späte Konzentration auf ein überschaubares Repertoire ist keineswegs ein Rückzug in die Bequemlichkeit. Im Gegenteil: Sie ist Ausdruck eines gewachsenen künstlerischen Ernstes. Artur Rubinstein etwa wurde einmal gefragt, warum er ein bestimmtes Werk – es mag nach meiner Erinnerung Balakirews „Islamey“ gewesen sein, berüchtigt als pianistische Höllenfahrt – nicht mehr neu einstudieren wolle. Seine Antwort: Er könne sich in seinem Alter kaum vorstellen, ein ganz neues Stück mit der erforderlichen Tiefe zu erschließen. Für ein solches Werk benötige er Monate der Auseinandersetzung – und müsse sich deshalb gut überlegen, ob ihm das in seiner verbleibenden Lebenszeit wirklich noch sinnvoll erscheine. Es war ein schlichtes, aber berührendes Eingeständnis: Die Ressource Zeit ist endlich. Irgendwann braucht es Lebenszeitökonomie. Und künstlerische Tiefe braucht Raum.
Fast anekdotisch wirkt daneben Herbert von Karajans Bemerkung über Carlos Kleiber, dessen sporadische Auftritte in der Musikwelt ihn gleichermaßen faszinieren wie frustrieren mussten: „Kleiber dirigiert nur noch, wenn der Kühlschrank leer ist.“ Das ist augenzwinkernd gesagt – und doch offenbart es das ganze Dilemma zwischen innerem Anspruch und äußerem Erwartungsdruck. Kleiber, der in seinen letzten Jahren nur noch auf wenige Werke zurückgriff, rang nicht weniger, sondern mehr mit der Musik. Und vielleicht lässt sich auch darin ein paradoxes Ideal erkennen: Wenn der perfekte Ausdruck zur Lebensfrage wird, dann kann man sich nicht mehr mit dem bloßen Repertoire begnügen. Dann ist jede Aufführung ein Wagnis – und ein Geschenk.
In solchen Momenten – und einen solchen, wirklich tiefgehenden hatte ich gerade bei Blomstedts Beethoven-Zweiter mit dem Elbphilharmonie-Orchester – verschmilzt die Musik des Augenblicks mit ihrer Gestalt. Ich spüre sie nicht nur, ich „sehe“ sie beinahe: den Notentext, die architektonische Form, den inneren Atem. Es ist eine Art synästhetische Wahrnehmung, wie sie einige Menschen bei Farben oder Zahlen empfinden – hier übertragen auf musikalische Strukturen. Die Komposition wird erlebbar als absolute Gestalt. Kein falsches Tempo, keine verwaschene Artikulation stört dieses Ideal. Alles fügt sich. Alles ist Gegenwart. Und: alles ist notwendig.
Am Rande: Manche mögen sich wundern, dass ich gerade Beethovens Zweite Sinfonie (im WIsmarer Konzert) als Beispiel eines überzeitlichen Musikerlebnisses anführe – wo sie doch oft im Schatten ihrer „heroischen“ Nachfolger steht. Aber das geht sich schon aus, wie meine österreichischen Freunde so schön zu sagen pflegen: Sie ist der Schritt aus der formalen Sprache der Klassik hinein in das expressive Neuland, das Beethoven später mit der Eroica und der Fünften endgültig erschließt. Ihre dynamischen Kontraste, die fein ausgehörte Agogik und die teils schon eruptiven Gesten lassen ahnen, wohin der Weg geht – und unter Blomstedts Führung wird genau dieser Übergangscharakter zu einem Ereignis. Hier wird nichts „nur schön“ gespielt – hier entsteht Bedeutung, ohne Worte.
In dieser Reduktion auf das Wesentliche, in der Konzentration auf das wahrhaft Bedeutende liegt vielleicht das wahre Privileg der späten Jahre – zumindest für jene, die ihr Leben der Musik gewidmet haben. Es ist kein Rückzug. Es ist ein Aufstieg.
Und, ganz nebenbei, wer sich fragt, was denn eigentlich der Dirigent überhaupt mache dort vor dem Orchester? Zumal jemand mit so sparsamer Gestik wie Herbert Blomstedt: Er vermittelt den Musikern in den Proben dieses Ideal und bringt es als Geisteshaltung mit in die Aufführung. Das hat dann etwas mit dem berühmten überspringenden Funken zu tun – oder, vielleicht präziser: mit einer realen, aber nur im Ergebnis greifbaren Transzendenz. Etwas, das nicht in der Geste liegt, sondern in der durchdrungenen Haltung, im Wissen, in der inneren Präsenz, die den Klang erst formt.
Appendix: Tastenkiller und Klangasketen
Mili Balakirevs Islamey – oft als „das schwierigste Klavierstück der Romantik“ bezeichnet – ist ein Paradebeispiel für jene Werke, die pianistische Virtuosität mit musikalischer Substanz verbinden. Rubinsteins Verzicht, sich im Alter noch einmal in dieses Werk zu vertiefen, wirkt gerade deshalb so eindrucksvoll, weil er den Unterschied verstand zwischen spielen können und es wert sein, gespielt zu werden. Dass Balakirevs orientalisch inspirierte Komposition heute nur selten im Konzertsaal erklingt, liegt weniger an mangelnder Qualität als an ihrem fordernden Charakter: Islamey verlangt nicht nur technische Brillanz, sondern auch interpretatorische Reife – und lässt wenig Raum für Halbheiten.
In eine verwandte Richtung dachte auch Sergiu Celibidache in seinen späten Jahren. Er, der kompromissloseste aller Klangasketen, weigerte sich konsequent, Aufnahmen zu machen – nicht aus Arroganz, sondern weil er Musik nur als raumzeitliches Ereignis akzeptierte. (Was mich nicht daran hindert, jeder Aufzeichnung mit ihm nachzuspüren, derer ich habhaft werden kann.) Sein Dirigat war ein Ringen mit der Stille vor dem Klang, ein Hören der Musik, bevor der erste Ton erklang. Wer seine späten Bruckner-Interpretationen kennt, spürt: Hier dirigiert keiner das Stück, sondern das Ideal, das ihm vorschwebt – mit einer Entschlossenheit, die jede Routine verabscheut. In gewisser Weise war Celibidache der konsequenteste unter denen, die dem So und nicht anders nachjagten – und auf diesem Weg lieber verzichteten als Kompromisse zu machen.
Das Eröffnungskonzerit des Musikfestivals Mecklenburg-Vorpommern vom 13.06.2025:
https://www.ndr.de/orchester_chor/elbphilharmonieorchester/audio_video/Blomstedt-Muehlemann-eroeffnen-die-Festspiele-MV-2025,festspielemv568.html
