
Es gibt Komponisten, deren Werk man durch wiederholtes Hören besser versteht. Und es gibt Bruckner.
Nicht etwa, weil seine Musik sich einer Analyse entzöge oder sich gegen ein intellektuelles Durchdringen sperrte. Im Gegenteil: Sie ist gebaut mit atemberaubender architektonischer Strenge, klaren Proportionen, motivischer Disziplin. Aber sie scheint in sich selbst zu ruhen, einer inneren Notwendigkeit zu folgen, die keine Erklärung verlangt. Vielleicht ist es das, was Kent Nagano meinte, als er sagte: „Es gibt nichts Größeres außerhalb von Bruckner.“
Wer sich ernsthaft auf Bruckner einlässt, begegnet unweigerlich auch seinen Fassungen. Kaum eine seiner großen Sinfonien existiert in nur einer autoritativen Gestalt. Die Vierte und die Achte sind Paradebeispiele für dieses Ringen um Form und Ausdruck – und zugleich ein Portal zur Frage: Was ist ein Werk? Und: Wann ist es abgeschlossen?
Die Vierte: Von der „Romantischen“ zur radikalen Urgestalt
Kaum ein Werk Bruckners hat so viel Zuneigung beim Publikum gefunden wie die Vierte. Ihr atmosphärischer Beginn, das aufsteigende Hornmotiv, das romantisch aufgeladene Jagdscherzo: All das prägte das Bild von Bruckner als „Natur“-Komponist, als Mystiker, als Landschaftsmaler in Tönen.
Und doch: Die „Romantische“ ist eine Fassung – eine späte. Ihre Popularität hat mit ihrer Glättung zu tun. Die Urfassung von 1874 hingegen überrascht mit schrofferen Übergängen, anderen Proportionen, einem ganz anderen Scherzo. Kein Jagdhorn, sondern ein strenges, beinahe verqueres Tanzstück. Auch der Finalsatz wirkt weniger versöhnlich, weniger episch, dafür pointierter.
In der Urfassung liegt ein Werk verborgen, das ganz andere Facetten zeigt: weniger romantisierend, dafür konsequenter gedacht. Es ist nicht überraschend, dass Kent Nagano sich gerade für diese Gestalt starkgemacht hat.
Die Achte: Zwei Welten – und eine offene Frage
Noch dramatischer ist die Lage bei der Achten. Die Urfassung von 1887 endet im ersten Satz mit einem triumphalen C-Dur-Schluss – schmetternd, affirmativ, beinahe zu viel des Guten. Die spätere Fassung – jene, die meist gespielt wird – schließt diesen Satz mit dem tönenden Ticken der Totenuhr. Ein Moment von Erschütterung, von tiefer, existenzieller Ernsthaftigkeit. Mehr Ambivalenz geht nicht.
Und doch: Gerade dieser Kontrast offenbart etwas Entscheidendes. Denn der Finalsatz – von Bruckner selbst als musikalische Hommage an das historische „Dreikaisertreffen“ von 1884 verstanden – fügt sich eigentlich nur zur Urfassung des ersten Satzes organisch. In der späteren Version, mit ihrem Todesahnen gleich zu Beginn, wirkt der Schlusssatz merkwürdig deplatziert, beinahe prätentiös.
Hier zeigt sich exemplarisch: Die Frage nach der „richtigen“ Fassung ist keine des Geschmacks, sondern eine der ästhetischen Logik.
Bruckner: kein Epigone, kein Systematiker, sondern ein Solitär
Bruckner ist kein Wagner-Epigone, so wenig wie er ein Antipode Brahms‘ ist. Beide Etiketten führen in die Irre, haben sich durch die Rezeption über all die Jahre zur historischen Anekdote abgeschliffen. Wer seine Musik wirklich kennt, spürt: Sie steht für sich. Nicht als Abgrenzung, sondern als Eigenheit. Ihre Tektonik, ihr spiritueller Ernst, ihre unfassbare Geduld – das ist nicht Stil, sondern Substanz.
Gerade deshalb ist der Umgang mit seinen Fassungen so heikel. Denn hier wird deutlich, dass es sich nicht um „Korrekturen“ im Sinne klassischer Revisionsarbeit handelt. Sondern um eine kompositorische Selbstbefragung von kaum gekannter Tiefe.
Fazit (eines Hörers, nicht eines Musikwissenschaftlers):
Die Urfassungen der Vierten und Achten haben mich überwältigt. Nicht als definitive Gestalten, sondern als Einblicke in das Labor eines Schöpfers, der sich mit jedem Ton rechtfertigen wollte. In ihrer Unmittelbarkeit, in ihrer manchmal sperrigen Konsequenz zeigen sie einen anderen Bruckner: den kompromisslosen Architekten.
Und vielleicht, wer weiß, wäre es eher dieser Bruckner gewesen als der der Spätfassungen, den Hugo Wolf einst meinte, als er angesichts der Achten von einer Musik sprach, die jede Kritik verstummen lässt. Nicht weil sie perfekt ist. Sondern weil sie notwendig ist.
Dies ist, bei aller thematischen Fokussierung, natürlich nur ein Spotlight im weiten Raum des Bruckner-Universums – ein Versuch, eine persönliche Entwicklung in der Wahrnehmung seiner Musik an einem konkreten Punkt sichtbar zu machen. Es wird sicher nicht der letzte Versuch bleiben. Denn Bruckner begleitet mich seit jenem Moment, in dem ich – noch als Jugendlicher – im Radio erstmals in ein langsames Crescendo aus Hans Knappertsbuschs Aufnahme der Dritten hineinhörte und das Gefühl hatte, der Himmel öffne sich über mir. Damals verstand ich noch wenig – aber ich wusste, dass da etwas war, das bleiben würde.
Veröffentlicht am 08.06.2025 von UdoEn
