
Es ist leicht, Musik zu erkennen. Aber schwer, sie zu begreifen.
Sie besteht aus Tönen, gewiss – doch kein Ton allein macht Musik.
Sie besteht aus Zeit, aber sie ist mehr als Dauer.
Sie ist Bewegung, aber keine Fortbewegung.
Sie ist Form – aber keine, die stillsteht.
Was ist Musik?
Musik – das flüchtige Ganze
Es gibt ein Paradox in unserem musikalischen Erleben:
Wir hören Musik nur im Moment. Wir können keinen Ton festhalten, nicht einmal den, der gerade erklingt – und doch entsteht in uns oft der Eindruck eines großen, zusammenhängenden Ganzen.
Wie ist das möglich?
Die Wahrnehmung von Musik ist vielleicht eine der eigentümlichsten menschlichen Erfahrungen. Sie scheint sich über Raum und Zeit zu erheben – und bleibt doch auf sie angewiesen. Sie besteht aus flüchtigen Schwingungen, aus Klangwellen in der Luft – und bewegt dennoch unser Innerstes. Was wir hören, ist kein Ding, kein Objekt, kein Abbild. Und dennoch ist es von Form durchzogen. Musik ist eine Kunst der Zeit – und vielleicht das einzige, was Zeit erfahrbar macht als etwas, das mehr ist als bloßes Vergehen.
Tönend bewegte Form – oder mehr?
Eduard Hanslick, einer der ersten großen Musikästhetiker des 19. Jahrhunderts, prägte die vielzitierte Formel von der Musik als „tönend bewegter Form“. Sie wurde oft missverstanden – nicht zuletzt von denen, die sie allzu rasch als Erklärung des Erlebens von Musik heranzogen. Hanslick wollte Musik nicht erklären, sondern abgrenzen: gegen allzu erzählfreudige Programme, gegen Überdeutungen, gegen den Versuch, in ihr mehr zu lesen, als sie tatsächlich „meint“. Seine Definition richtete sich gegen die Romantiker, die in Musik vor allem ein Ausdrucksmittel sahen – für Gefühle, für Weltanschauung, für Philosophie.
Doch Hanslicks Formel erklärt nicht, warum Musik wirkt. Sie beschreibt ihr Wesen – als Form – aber sie erreicht nicht ihr innerstes Erlebnis: das staunenswerte Phänomen, dass Musik zwar aus Zeit besteht, aber in uns Gestalt wird. Dass sie etwas entstehen lässt, das über den einzelnen Ton hinausweist – ja, das diesen einzelnen Ton überhaupt erst mit Bedeutung auflädt. Denn was ist ein Ton ohne Zusammenhang? Ein Geräusch. Was macht ihn zu Musik? Beziehung.
Die Unmittelbarkeit der Bewegung
Karl Grebe, Biograf Anton Bruckners, sprach einmal – bezogen auf den ersten Satz der Neunten – von einer Musik, die sich „in großen Schüben entlang der Form“ bewege. Das klingt zunächst kryptisch, trifft aber einen Kern: Musik ist kein lineares Nacheinander, sondern ein Erleben von Spannungen, Entladungen, Gestaltungswillen. Es gibt Kulminationen, Rücknahmen, Entwicklungen, die sich auf einer Ebene vollziehen, die kein Wort vollständig beschreibt.
Besonders eindrücklich wird das, wenn wir Sätze oder ganze Werke hören, die in sich eine so hohe innere Kohärenz tragen, dass uns – beim Wiederauftauchen eines Themas oder bei der Coda – das Davor schlagartig wieder bewusst wird. Nicht durch Erinnerung im engeren Sinn, sondern durch ein inneres Erleben von Zusammenhang. Wer den ersten Satz der Neunten von Beethoven hört und das lange Warten auf die Auflösung in der Coda durchsteht, spürt auf einmal: Dieses unbestimmte Grollen des Beginns, das scheinbar Strukturlose, war nicht etwa formfrei. Es war Vorauswurf. Was hier zum Ende kommt, lag im Anfang bereits verborgen. Und das ist erlebbar.
Die Physiologie hilft – aber nicht genug
Es gibt viele Versuche, das Musikerleben physiologisch zu erklären. Hirnforschung, Wahrnehmungspsychologie, sogar Evolutionsbiologie bemühen sich, die Wirkung von Tonhöhen, Harmonien, Rhythmen auf das menschliche Nervensystem zu untersuchen. Und gewiss sind diese Befunde nicht belanglos. Sie helfen uns zu verstehen, dass Musik kein bloß kulturelles Konstrukt ist. Dass wir offenbar von Natur aus mit Sensoren ausgestattet sind, die Klangbeziehungen als sinnhaft erleben können. Dass Intervalle, Tempi, Dissonanzen unser vegetatives Nervensystem beeinflussen. Dass es Resonanzräume in uns gibt, auch jenseits der Ohren.
Aber: Die Physiologie erklärt nicht, warum wir Musik als Sinn erleben. Sie erklärt nicht, warum uns ein Adagio von Mahler zu Tränen rühren kann. Sie erklärt nicht, warum wir die Seele eines Stücks spüren – oder ihr Fernbleiben bemerken, obwohl kein Fehler gemacht wurde. Musik lebt nicht im Reiz, sondern im Ausdruck. Und Ausdruck ist mehr als Reaktion.
Musik als sprechende Zeit
Vielleicht ist es das: Musik ist Zeit, die zu uns spricht. Nicht über Worte, nicht über Bilder, sondern durch Form. Nicht im Sinne eines Codes, den es zu dechiffrieren gilt, sondern im Sinne einer verstehenden Bewegung, an der wir teilhaben.
Und dieses Teilhaben ist nicht selbstverständlich. Es braucht Einlass. Offenheit. Bereitschaft. Und: eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache, die Musik ist – oder besser: mit dem Sprechen der Musik. Denn wie jede Sprache braucht auch sie Agogik, Dynamik, Artikulation – Ausdrucksmittel, die ihren Sinn nicht in sich selbst tragen, sondern im Zusammenspiel.
Wer Musik ohne diese Mittel spielt, erzeugt korrekt geordnete Töne – aber keine Musik. Er erzeugt, was Hanslick vielleicht gemeint haben mag – und was viele junge Virtuosen heute so perfekt beherrschen: die tönend bewegte Form.
Aber nicht die beseelte.
Der vorbereitete Raum
Und doch scheint es, als sei etwas in uns vorbereitet, das diese Musik empfangen kann. Selbst Menschen ohne musikalische Bildung erleben manchmal – scheinbar aus dem Nichts – eine tiefgehende Berührung. Ein Ton, ein Choral, eine Melodie: Und plötzlich ist da ein Raum geöffnet, von dem sie nicht wussten, dass es ihn in ihnen gibt. Vielleicht ist das das tiefste Geheimnis der Musik: Dass sie uns an etwas erinnert, was wir nie gelernt haben – und doch in uns tragen.
Musik als Widerlegung des Leib-Seele-Dualismus
Die Philosophie hat lange an der Trennung von Körper und Geist festgehalten. Der „Leib-Seele-Dualismus“ spukt bis heute in vielen Köpfen – sei es in populären Vorstellungen vom „Geist über der Materie“ oder in der Annahme, Musik sei eine rein geistige, ästhetische Erfahrung, „jenseits“ des Körpers.
Aber wer Musik wirklich hört – nicht bloß konsumiert, sondern aufnimmt –, der spürt, wie falsch diese Trennung ist. Musik spricht den ganzen Menschen an. Sie wird nicht nur gedacht, sie wird erlebt. Sie wird nicht nur verstanden, sie wird empfunden. Man kann ein Musikstück analysieren – aber man kann es auch spüren, ohne eine einzige musikalische Kategorie benennen zu können.
Es ist der Körper, der vibriert. Das Herz, das schneller schlägt. Die Atemfrequenz, die sich verändert. Und gleichzeitig ist es der Geist, der Bedeutung sucht, Muster erkennt, sich erheben lässt.
Musik ist also nichts weniger als der Beweis, dass Körper und Geist nicht getrennt sind – sondern nur getrennt gedacht wurden. Musik ist das Phänomen, in dem sich beides untrennbar durchdringt.
Musik ist leibhaftige Gegenwart
Es gehört zu den stillen Selbstverständlichkeiten unserer Wahrnehmung, dass Musik durch den Körper geht. Das Herz reagiert. Der Atem verändert sich. Die Muskeln spannen sich unwillkürlich im Rhythmus. Manchmal entsteht Gänsehaut, obwohl es keine äußeren Reize dafür gibt. Selbst Menschen, die sich nicht für besonders musikalisch halten, spüren diese Resonanz. Musik trifft uns – buchstäblich.
Und das ist keine Metapher. Die physiologische Forschung zur Musikwahrnehmung hat längst gezeigt, dass wir nicht nur mit dem Gehör hören. Schall wird nicht nur über das Ohr aufgenommen, sondern über die Haut, über die Knochenleitung, über die gesamte Körperhaltung verarbeitet. Auch das Gehirn antwortet nicht nur auf Frequenzen, sondern auf Verhältnisse, auf Spannung und Lösung, auf Erwartung und Überraschung. Und zwar in Arealen, die mit Bewegung, Emotion, Erinnerung und sogar mit dem Ich-Erleben zu tun haben.
Das erklärt nicht alles – aber es zeigt, dass Musik immer schon mehr ist als ein ästhetisches Ereignis. Sie ist eine leiblich grundierte Kunstform, die über den sinnlichen Reiz hinaus wirkt. Sie ruft nicht nur Assoziationen hervor, sondern strukturiert Empfindung. Und so wird verständlich, warum manche Musik „einzieht“ – und andere eben nicht.
Gerade deshalb ist jede gute Interpretation auch eine Form verkörperter Präsenz. Sie lebt davon, dass der Musiker selbst ganz da ist – in Körper, Geist und Empfindung. Wenn Agogik fehlt, wenn das Hinhören ins Orchester fehlt, wenn Musik zur Machtdemonstration wird, verliert sie genau das: ihre leibhaftige Qualität. Sie wird technisch, äußerlich, körperlos – und damit auch: seelenlos.
Transzendenz ohne Mystik – Musik als Grenzerfahrung
Man darf – ja, man muss – in diesem Zusammenhang auch von Transzendenz sprechen. Nicht im Sinne einer esoterischen Entrückung oder einer jenseitigen Welt – sondern als das, was über den bloßen Moment, die bloße Funktion, die bloße Zweckgebundenheit hinausweist. Musik hebt uns nicht aus der Welt heraus – aber sie zeigt uns, dass unser Erleben nicht in ihr aufgeht.
Sie ist das sinnlich erfahrbare Gegenbild zum rein Funktionalen, ein Moment des Innehaltens, das die Welt nicht verleugnet, sondern verwandelt.
Ein rational denkender Mensch – ein Skeptiker gar – muss sich dessen nicht schämen. Im Gegenteil: Wer Musik nur als „akustisches Ereignis“ auffasst, der verfehlt sie. Und wer das Staunen über die Macht von Musik durch ein paar neurophysiologische Abläufe ersetzt, der hat zwar etwas erklärt – aber nichts verstanden.
Transzendenz in diesem Sinn bedeutet: das Erlebnis eines Zusammenhangs, der größer ist als ich – ohne dass ich ihn als übernatürlich erklären müsste. Musik ist vielleicht gerade deshalb das „säkularste Sakrale“, das wir kennen: Sie verlangt keinen Glauben, sie verkündet keine Lehre – und sie wirkt dennoch tief und verwandelnd.
Veröffentlicht am 01.06.2025 von UdoEn
