Das eingelöste Versprechen – Eine Annäherung an Sergiu Celibidache (2)

Musikalische Reflexion – visualisiert von Microsoft Copilot

Celibidache über Anfang und Ende in der Musik

Sergiu Celibidache sprach oft davon, dass ein musikalisches Werk nur aus dem Zusammengehen von Anfang und Ende zu verstehen sei. Damit meinte er nicht die kompositorischen Regeln der Rückkehr zur Ursprungstonart oder die Kadenzbildung als formale Schließung. Er meinte etwas Tieferes: dass das Ende die Erfüllung dessen sei, was der Anfang verspricht. Dass Musik nicht nur beginnt und endet, sondern sich vollzieht — in einem inneren Bogen, der nicht konstruiert, sondern erlebt wird.

Ich erinnere mich dabei an den ersten Satz von Beethovens Neunter. Für mich liegt in der Coda die Apotheose des zögernden, tastenden Beginns. Was dort am Anfang nur angedeutet wird — jene pochende Unruhe, jene suchende Bewegung — findet am Ende seine Form, seine Kraft, seine Notwendigkeit. Es ist, als würde der Satz sich selbst erkennen. Und Celibidache verstand genau das: dass Musik nicht aus Teilen besteht, sondern aus Beziehungen. Dass der Anfang nur dann Sinn hat, wenn das Ende ihn bestätigt — nicht als Wiederholung, sondern als Erfüllung.

In seinen Proben sprach er oft von „Entwicklung“ nicht als Steigerung, sondern als Verwandlung. Der Klang verändert sich, weil er sich erinnert. Und das Werk wird nicht gespielt, sondern durchlebt. Der Dirigent ist dabei kein Gestalter, sondern ein Begleiter — einer, der den Weg kennt, aber nicht vorgibt. Einer, der weiß, dass der Anfang nur dann Gewicht hat, wenn das Ende ihn trägt.

Vielleicht ist das der tiefste Unterschied zwischen Interpretation und Annäherung. Die Interpretation will etwas sagen. Die Annäherung will etwas verstehen. Und Celibidache war ein Verstehender — einer, der dem Werk zuhörte, bevor er es zum Klingen brachte.


Neben Beethovens Neunter finden sich viele andere Meisterwerke, an denen sich Celibidaches Gedanke vom Zusammenspiel von Anfang und Ende exemplarisch verdeutlichen lässt. Nehmen wir etwa den ersten Satz von Brahms’ Vierter Sinfonie — für mich zweifellos der vollendetste Orchestersatz, den Brahms geschrieben hat. Er beginnt unmittelbar mit einem elegischen Hauptthema in den Streichern, das harmonisch gesetzt ist, doch in seiner Intonationswirkung einfach und schlicht bleibt. Erst im Verlauf, besonders gegen Ende der Durchführung und in der Coda, entfaltet sich dieses Motiv in seiner ganzen Tiefe. Es hält der vielstimmigen Textur des Orchesters stand und behauptet sich als Zentrum und Kern des Satzes.

Ein anderes Beispiel ist Schuberts Große C-Dur-Sinfonie, in der sich diese Idee einer übergreifenden Geschlossenheit nicht nur auf einzelne Sätze, sondern auf das gesamte Werk bezieht. Hier beeindruckt vor allem die Konsistenz des musikalischen Duktus, der trotz der Vielfalt der Motive und deren Verarbeitung eine untrennbare Einheit bildet. Ähnliche Strukturen sind bei Beethovens Siebter Sinfonie zu beobachten, in der der Fluss der musikalischen Energie vom ersten bis zum letzten Takt eine geradezu organische Kraft entfaltet.

Und natürlich sind da Bruckners große Sinfoniesätze, die wir im Kontext Celibidaches noch ausführlicher betrachten werden. Sie zeigen, wie die musikalische Form sich nicht nur als festgefügtes Gebilde versteht, sondern als ein lebendiger Prozess, in dem Anfang und Ende in einem dynamischen Dialog stehen, der den Hörer tief in die Dimensionen von Zeit, Raum und Klang eintauchen lässt.


Klang als Erfahrung – Celibidache und die Leere des Zen

Celibidache war kein Dirigent im herkömmlichen Sinn. Er war ein Suchender — einer, der Musik nicht reproduzieren, sondern erfahren wollte. Seine jahrzehntelange Reflexion über Klang, Zeit und Struktur war nicht bloß musikalisch, sondern metaphysisch. Und sie war durchdrungen von seiner ernsthaften Praxis des Zen-Buddhismus, den er nicht als spirituelle Dekoration verstand, sondern als Lebenshaltung.

Im Zen geht es nicht um das Erklären, sondern um das Erleben. Nicht um das Benennen, sondern um das Sein. Und genau das übertrug Celibidache auf die Musik. Für ihn war Klang kein Objekt, sondern ein Phänomen — etwas, das entsteht, vergeht, sich wandelt. Etwas, das nur im Moment existiert und nur im Moment verstanden werden kann.

Er sprach von der „phänomenologischen Musik“, nicht als Theorie, sondern als Praxis: Wie entsteht Klang? Wie wirkt er im Raum? Wie verändert er sich durch Zeit? Und wie kann man ihn so gestalten, dass er nicht nur gehört, sondern erfahren wird?

Diese Haltung machte ihn zu einem Frühvollendeten. Nicht im Sinne eines fertigen Künstlers, sondern als jemand, der früh begriff, dass Musik nicht im Werk liegt, sondern im Werden. Dass das Ziel nicht die Interpretation ist, sondern die Annäherung — an das, was der Komponist vielleicht gemeint hat, und an das, was der Klang selbst offenbart.

Celibidache dirigierte nicht, um zu gestalten. Er dirigierte, um zu ermöglichen. Und darin liegt seine Größe: Er stellte sich nicht vor die Musik, sondern hinter sie. Er ließ sie geschehen — und war dabei ganz gegenwärtig.


Gegen die Reproduzierbarkeit – Celibidache und die Ablehnung des Studios

Für Celibidache war die Arbeit im Tonstudio ein Gräuel. Nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung. Die Vorstellung, Musik in einzelne Takes zu zerlegen, sie später zu montieren, zu glätten, zu „verbessern“, widersprach seiner gesamten Auffassung von Klang als lebendigem Phänomen. Musik war für ihn kein Produkt, sondern ein Prozess — und dieser Prozess war unteilbar.

In vielen älteren Aufnahmen hört man die Brüche, die Schnitte, die Kälte der Montage. Es ist, als würde man ein Gemälde in Einzelteile zerlegen und dann behaupten, es sei dasselbe. Für Celibidache war das Verrat — nicht am Werk, sondern am Hörer. Denn der Hörer erlebt nicht die Musik, sondern ihre Simulation.

Und doch bin ich dankbar für die Bruckner-Aufnahmen mit den Münchner Philharmonikern. Dankbar für die Videos seiner Proben, für die Mitschnitte aus dem Gasteig. Auch wenn er selbst mit diesen Aufnahmen nicht einverstanden war, nahm er sie hin — weil sie immerhin live entstanden. Weil sie nicht aus Fragmenten bestanden, sondern aus einem Moment, der sich vollzog.

Damals war das eine Ausnahme. Heute ist es ein Schatz.


Das Orchester als Resonanzkörper – Celibidache und die Münchner Philharmoniker

Von 1979 bis zu seinem Tod im Jahr 1996 dirigierte Sergiu Celibidache kein anderes Orchester als die Münchner Philharmoniker. Eine bewusste Entscheidung, die weit über organisatorische oder persönliche Präferenzen hinausging. Die Philharmoniker waren für ihn nicht nur ein Klangkörper, sondern ein Resonanzkörper — ein Instrument, das er über Jahre hinweg formte, schulte, prägte. Nicht durch Anweisung, sondern durch Erfahrung. Nicht durch Routine, sondern durch Arbeit.

Die berühmte Ausnahme — Bruckners Siebte mit den Berliner Philharmonikern, auf Betreiben von Richard von Weizsäcker — bestätigt die Regel. Denn Celibidache war kein Gastdirigent. Er war ein Musiker, der Bindung brauchte, um Tiefe zu erreichen. Und Tiefe war für ihn kein Effekt, sondern das Ergebnis einer gemeinsamen Klangbewusstheit, die sich nur über Zeit und Vertrauen entwickeln lässt.

Er verlangte viel Probenzeit — und bekam sie. Nicht aus Eigensinn, sondern aus Notwendigkeit. Denn für ihn war jede Note ein Ereignis, jede Wendung ein Moment der Entscheidung. Manfred Honeck sagte einmal, Celibidache habe jede Note geprobt, sich niemals auf die Routine des Orchesters verlassen. Und das ist kein Perfektionismus, sondern eine Haltung: Musik entsteht nicht aus Gewohnheit, sondern aus Gegenwärtigkeit.

Die Münchner Philharmoniker wurden unter seiner Leitung zu einem Instrument, das nicht nur spielte, sondern hörte. Und das ist vielleicht das größte Vermächtnis Celibidaches: die Idee, dass ein Orchester nicht nur Klang produziert, sondern Klang versteht. Nicht als Summe von Tönen, sondern als Ausdruck eines gemeinsamen Bewusstseins.


Klang als Ausgangspunkt – Celibidaches Probenarbeit und musikalische Verantwortung

Celibidaches Probenarbeit war auf Klang ausgelegt. Nicht auf Artikulation, nicht auf Tempo — diese folgten dem Klang, nicht umgekehrt. Es war ein besonderes Phänomen seiner Arbeit: Die Musik entstand nicht aus der Struktur, sondern aus der Erfahrung. Und diese Erfahrung war nie Routine. Auch nicht für ihn selbst.

Er überraschte seine Philharmoniker immer wieder mit neuen Einsichten in die Partitur, mit Entdeckungen verborgener Subtilitäten, mit Fragen, die sich erst im Hören stellten. Denn für Celibidache war das Werk kein fertiges Objekt, sondern ein lebendiger Raum, der sich nur durch geduldige Annäherung erschließt. Und diese Annäherung war nur möglich, wenn er das Werk wirklich verstand. Nicht technisch, sondern geistig.

Er dirigierte nur, was er verstand — und verstand nur, was er durchdrungen hatte. Dabei war er ein Universalist. Sein Ruf als „Nur-Bruckner-Dirigent“ ist ein Missverständnis. Von den russischen Sinfonikern bis zu den subtilen Klangfarben der französischen Expressionisten legte er an alles den gleichen Maßstab an: musikalische Integrität und Verantwortung.

„Es gibt keine Interpretationen“, sagte er. Und meinte damit: Es gibt keine willkürliche Deutung, keine persönliche Handschrift, keine Geste, die sich über das Werk erhebt. Es gibt nur die Annäherung an das, was der Komponist gemeint haben könnte — und die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen, um das Werk sprechen zu lassen.


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