
Es gibt in meinem Leben nicht viele Konstanten, aber eine begleitet mich so selbstverständlich, so tief und dauerhaft, dass ich sie lange Zeit kaum als solche benennen konnte: die Musik. Sie war nie bloß ein schönes Beiwerk, nie bloß Entspannung, nie bloß ein Talent. Sie war immer viel mehr – ein Resonanzraum meiner selbst, ein Ort der Sammlung, ein stiller, mächtiger Grundton, der mich durch die Zeiten trug. Vielleicht das einzige Transzendentale, vielleicht gar Spirituelle, das ich mir gestatte. Aber das mit aller Konsequenz.
Ich habe sie nie professionalisiert. Und das ist vielleicht gut so. Denn so blieb sie frei – frei von Erwartungen, frei vom Markt, frei von der Routine, die vielen Musikerinnen und Musikern irgendwann die innere Flamme raubt. Ich habe mich früh damit abgefunden, dass es nicht „reichen“ würde – was immer das heißen soll. Aber ich wusste schon damals, dass ich mit ihr etwas in mir trage, das mich prägt, leitet und schützt: ein inneres Maß.
Denn Musik, wie ich sie verstehe, ist kein Fach. Kein Wettbewerbsfeld. Kein Bühnenakt. Musik ist gestaltgewordene Bedeutung. Wer ein Präludium von Chopin spielt, ohne die Seele des Stücks zu atmen, wer eine Partita von Bach auf Perfektion trimmt, ohne ihr Geheimnis zu ehren, hat technisch vielleicht alles – und doch das Wesentliche nicht berührt. Technik ist die Bedingung, nicht das Ziel. Was zählt, ist das Musizieren im eigentlichen Sinne: Kopf, Herz, Seele in Einklang.
Ich habe in meinem Leben glücklicherweise nicht sehr viele, aber doch so manche Menschen getroffen, die verstehen, was Musik für mich bedeutet. Aber die, die es taten, verstanden es ohne viele Worte. Es war ein stilles Einverständnis. Und vielleicht liegt genau darin das größte Geschenk: Wenn man dieses tiefe, stumme Wissen weitergeben kann – an ein Kind, an einen Freund, an einen jungen Menschen, der mit leuchtenden Augen zum ersten Mal wirklich hört.
In einer Zeit, in der Unterhaltung oft bedeutet, Menschen bloßzustellen, und Bildung auf Prüfungswissen reduziert wird, ist Musik für mich der Gegenentwurf. Nicht, weil sie elitär wäre. Sondern weil sie uns daran erinnert, dass der Mensch mehr ist als ein funktionierendes Wesen. Musik verlangt Haltung. Aufmerksamkeit. Ein inneres Maß. Und genau das geht verloren, wenn wir glauben, Bildung sei etwas, das sich allein in Punkten, Klicks oder Marktwert ausdrücken ließe.
Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder daran zu erinnern, was Bildung ursprünglich meinte: nicht das Anhäufen von Fakten, sondern die Formung des Menschen. Musik hat das immer gewusst. Wir sollten es nicht vergessen.
Vielleicht ist es das, was Musik in ihrer Tiefe so einzigartig macht: dass sie nicht bloß wirkt, sondern formt. Dass sie nicht einfach „da“ ist, sondern den Raum zwischen dem Sein und dem Verstehen ausleuchtet – ein Raum, den kaum eine andere Kunst so vollkommen betreten darf. Musik kann trösten, bewegen, aufrütteln. Aber vor allem gibt sie uns ein Maß. Ein inneres Maß. Ein seelisches.
Dieses Maß ist nichts, was sich lehren lässt. Und doch kann man es erleben, erfahren, erspüren – mit einem Mal, in einer Phrase, in einem Intervall, das sich auflädt mit einer Bedeutung, die nicht erklärbar, aber unüberhörbar ist. Es ist das Ergriffensein, das manche Menschen beim ersten Hören einer Bruckner-Sinfonie empfinden, bei einer Arie von Gluck, bei einem langsamen Satz von Schubert. Der Klang ist verklungen – aber etwas bleibt. Etwas Ganzes. Etwas, das wir nicht benennen, aber mit jeder Faser unserer Wahrnehmung verstehen.
Das ist vielleicht das größte Wunder der Musik: dass sie vergeht und doch bleibt. Dass sie aus Zeit gemacht ist und dennoch über Zeit hinausweist. Und dass sie – im Gegensatz zu vielen anderen kulturellen Ausdrucksformen – niemanden voraussetzt, der sie „erklärt“. Wer für Musik empfänglich ist, weiß auch ohne Worte, dass da etwas geschieht, was über die Sinne hinausgeht. Ein Erkennen, das im Erleben selbst gründet.
Manchmal denke ich: Musik ist nicht nur eine Kunst, sie ist eine Anthropologie. Sie zeigt uns, was es heißen kann, Mensch zu sein – empfindend, erinnernd, hoffend, leidend, sehnend. Und indem sie das tut, gibt sie uns ein Bild von uns selbst, das sich jeder Reduktion widersetzt. Vielleicht ist sie deshalb so schwer fassbar. Und vielleicht liegt gerade darin ihr größter Schatz: Dass sie sich nie ganz festhalten lässt, aber immer ganz gegenwärtig ist – in dem Moment, in dem wir bereit sind, uns ihr wirklich zuzuwenden.
Ich habe oft darüber nachgedacht, warum mir gelegentliche falsche Töne wenig ausmachen, eine verhunzte Interpretation aber sehr wohl. Es ist, als würde jemand mit der Stimme eines geliebten Menschen sprechen – aber dessen Innerstes verfehlen. Denn wer Musik spielt, hat eine Verantwortung. Nicht gegenüber dem Notentext, sondern gegenüber dem, was darin verborgen liegt: der innere Bauplan des Erlebens, den ein Komponist einst in Klang verwandelte, um ihn mit jemandem zu teilen, den er nie treffen würde. Uns.
Deshalb bin ich traurig, wenn junge Musikerinnen und Musiker nur noch trainiert werden – schnell, präzise, effizient. Wenn technische Brillanz zum Maßstab wird und das Maß selbst verlorengeht. Ich kenne diesen Kummer aus Gesprächen, aus Hörbeispielen, aus den Seufzern gestandener Musikpädagogen. Virtuosität ohne Seele ist keine Musik. Sie ist Akrobatik mit falschem Pathos. Eine große Chopin-Etüde ist keine Fingerübung – sie ist ein Gedicht, ein Bekenntnis, ein Seufzer. Wer sie spielt, ohne innerlich mitzusingen, hat sie nicht gehört.
Und trotzdem bleibe ich hoffnungsvoll. Denn ich weiß: Dieses Maß – dieses seelische Maß – lässt sich nicht zerstören. Es lebt in Menschen weiter, die vielleicht nie ein Konzertpodium betreten. In jungen Talenten, die aufhorchen, wenn sie etwas wirklich Erhabenes hören. In Söhnen, die durch ihre Väter lernen, dass Musik ein Schatz ist, der nicht im Applaus besteht. In Schülerinnen, die den Unterschied hören zwischen Lautstärke und Ausdruck, zwischen Übung und Einsicht.
Musik wird bleiben. Weil sie nicht einfach erklingt, sondern antwortet – auf das, was in uns noch keine Worte gefunden hat.
Musik als seelisches Maß – und was wir daran verlieren
Wer das seelische Maß der Musik einmal gespürt hat, wird es nie wieder ganz verlieren – aber er erkennt umso schärfer, wo es verloren geht. Die heutige Gesellschaft bringt eine paradoxe Entwicklung hervor: Musik ist allgegenwärtig, ständig verfügbar, in nie dagewesener Klangqualität – und doch wird sie immer weniger erlebt. Sie wird konsumiert, unterlegt, geloopt, aus dem Kontext gelöst und als Stimmungstrigger zweckentfremdet. Der Begriff „Hintergrundmusik“ (bezeichnend im Englischen: elevator music) hat eine geradezu unheimliche Selbstverständlichkeit angenommen – dabei ist echte Musik niemals Hintergrund. Sie ist immer Gegenwart, und sie verlangt immer einen hörenden, mitfühlenden Menschen.
Dieses Verstummen des seelischen Maßes vollzieht sich leise. Es beginnt dort, wo Bildung nicht mehr auf Bildung zielt, sondern auf Qualifikation. Wo das Humboldtsche Ideal als elitär abgetan wird, statt es als Schutzraum für Sinn und Sinnlichkeit zu begreifen. Wo in Musikschulen Tonleitern gedrillt werden, aber keine Zeit mehr bleibt, über das Wesen einer Phrase zu sprechen. Wo junge Menschen Chopin spielen können, bevor sie wissen, wie man Chopin hört.
Denn hören – wirklich hören – ist nicht einfach eine passive Wahrnehmung. Es ist ein Akt der Zuwendung. Eine Form von innerer Weltverarbeitung, bei der man nicht nur Klang aufnimmt, sondern sich selbst darin verortet. Musik wird dabei zu einem Spiegel, einem Resonanzraum, einer Möglichkeit zur Selbstwerdung. Wer einmal Schuberts langsamen Satz aus dem B-Dur-Trio in der Trauer gehört hat, weiß, dass Musik mehr ist als Schönheit. Sie ist Erfahrung in Tönen. Und damit eine Schule der Seele.
Dass dies nicht mehr selbstverständlich ist, zeigt sich auch in der populären Kultur. Unterhaltungssendungen inszenieren Wissensfragen als Zufallsereignis, Bildung als Kuriosität, Intuition als Ratespiel. Es geht nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, zu gewinnen. Und selbst dort, wo das Wissen sich noch durchsetzt, wird es in infantile Begeisterung verpackt – als wäre es verdächtig, sich ernsthaft für etwas zu interessieren. Bildung, auch musikalische, ist in dieser Logik ein performativer Akt geworden: Man zeigt, was man kann, aber nicht, was man verstanden hat.
Gerade in der Musik aber offenbart sich das Tragische dieser Entwicklung besonders klar. Denn musikalisches Verständnis ist nicht messbar, nicht quantifizierbar. Es ist nicht der schnelle Lauf, nicht das saubere Legato, nicht der perfekte Klang – all das sind Mittel, nicht Ziele. Entscheidend ist, ob ein junger Mensch mit seinem Spiel erzählt, ob er dem Stück Raum gibt zu atmen, ob er dem Zuhörer etwas sagt, das über Technik hinausreicht. Wo das nicht mehr geschieht, ist Musik zwar noch hörbar – aber nicht mehr wesentlich. Weil sie dann beim Öffnen innerer Räume versagt.
Vielleicht liegt in dieser Erkenntnis auch ein möglicher Trost: Musik als seelisches Maß lässt sich nicht von außen befehlen, nicht standardisieren, nicht durch Algorithmen ersetzen. Sie bleibt ein innerer Ruf – an jene, die ihn hören können. Und sie ruft weiter, auch in einer lauter werdenden Welt.
Doch wer sich wirklich auf die Musik einlässt – wer sie nicht nur hört, sondern zu verstehen sucht, mit ihr lebt, sich von ihr durchdringen lässt –, der wird erfahren: Ihr Segen fällt nicht gleichmäßig oder gar auf einmal auf einen herab. Wer glaubt, Musik sei nur Gnade, dem entgeht, dass sie auch Arbeit ist. Nicht im mechanischen Sinn, sondern als eine Art innerer Schulung. Sie verlangt Geduld – mit sich selbst und mit ihr. Die großen Offenbarungen kommen oft spät. Und bis dahin begleiten uns Vorlieben, aber auch blinde Flecken.
So war es auch bei mir. Lange habe ich mit den langsamen Sätzen gerungen. Ich wusste, dass sie etwas enthalten, was mir noch fehlte – aber ich kam nicht heran. Ebenso fremd blieb mir lange Zeit die Kammermusik, als sei sie eine Welt für Eingeweihte. Erst später, mit dem Reifen des Gehörs und der Seele, begann ich zu ahnen, was dort verborgen liegt. Heute sind diese langsamen Sätze, diese kammermusikalischen Dialoge, für mich Rückzugsorte geworden – Orte des Innehaltens, der inneren Sammlung, vielleicht sogar der Wahrheit.
Es gibt Tage, an denen es ein Glück ist, eine Verdi-Oper zu erleben – mit aller Leidenschaft, allem Theater, aller Expressivität. An anderen zieht es mich zur Großen Fuge, in ihrer spröden, überirdischen Strenge. Und manchmal, wenn das Leben besonders laut war, finde ich mich wieder im langsamen Satz der Hammerklaviersonate – einem Raum, der nichts will außer sein. Heute unterscheide ich kaum noch zwischen Epochen, Stilen oder „Lieblingskomponisten“. Es gibt gute Musik – und schlechte. Musik mit Substanz, und solche mit bloßer Oberfläche. Das reicht.
Als eine äußerste Steigerung eines solchen transzendentalen Musikerlebnisses erscheinen mir nach einem langen Leben mit der Musik Beethovens späte Klaviersonaten. Jenseits alles Virtuosen, jenseits selbst kompositorischer Meisterschaft im herkömmlichen Sinne – als Wunderwerke höchsten Ausdrucks. Und doch sind sie, auf den ersten Blick, von einer fast scheuen Schlichtheit: Sie zögern, sie stocken, sie setzen neu an, sie brechen ab – als wollten sie sich selbst nicht zu sicher sein. Als hörte man hier nicht den Komponisten, sondern das Fragen selbst.
Gerade in dieser fast entmaterialisierten Sprache liegt ihre größte Kraft. Hier spricht Musik nicht mehr zu den Ohren, sondern zu einer tieferen Instanz – zu jenem inneren Ort, an dem Seele und Gedanke nicht mehr zu trennen sind. Ich weiß nicht, ob man so etwas verstehen kann, bevor man sich nicht selbst durch Leben und Hören hindurchgearbeitet hat. Aber ich weiß: Das Verstehen – und das Lieben – dieser Musik ist für mich vielleicht der Höhe- und Schlusspunkt meiner musikalischen Lebensreise. Und wenn ich eines Tages zurückschaue auf das, was ich mit der Musik hatte, dann werden diese späten Sonaten dort stehen wie stille Gipfel: klar, fern – und doch ganz nah.
Und doch – so sehr ich heute auf ein ganzes Leben mit der Musik zurückblicke, so sehr bleibt sie mir auch ein offenes Feld. Noch immer entdecke ich Neues, noch immer freue ich mich wie ein Kind über ein unbekanntes Stück, über eine Aufführung, eine Aufnahme, die etwas aufschließt, was ich so nie gehört hatte. Die Welt der Musik ist zu weit, um je vollständig erfasst zu werden – und gerade das macht sie so reich.
Manche Stimmen meinen, das klassische Repertoire sei erschöpft, es stamme ohnehin nur von einer Handvoll großer Namen. Ich halte das für ein tragisches Missverständnis. Als wären diese Namen vom Himmel gefallen – und nicht selbst gewachsen aus Jahrhunderten des Ringens, auf den Schultern unzähliger Vorgänger stehend, in ein Netzwerk aus Einflüssen, Gedanken, Stilen eingebettet. Und selbst wenn: Wenn aus wenigen Quellen ein Ozean wird, ist das dann ein Mangel? Zumal viele dieser Größen für sich allein ein Ouevre geschaffen haben, dessen tieferes Verständnis eine ganze Lebensleistung sein kann.
Musik – das ist keine Liste, kein Lexikon. Es ist eine Dimension des Menschseins, ein seelischer Raum, der sich nicht durch Quantitäten rechtfertigt, sondern durch seine Tiefe. Sie verlangt etwas von uns: Geduld, Empfänglichkeit, Bildung auch – aber sie schenkt uns etwas, was über höfliches Interesse weit hinausgeht. Musik ist nicht billig zu haben – weder im Schöpferischen noch in der Rezeption. Aber wer sich ihr wirklich nähert, der wird reich. Sehr reich.
Veröffentlicht am 30.05.2025 von UdoEn
