
Es gibt keinen Algorithmus für Agogik. Kein Notenbild, das sie vollständig abbilden könnte. Kein metrisches Raster, das sie vollständig erklären würde. Agogik ist das feine, lebendige Spiel mit Zeit – nicht als Taktmaß, sondern als seelisches Maß. Sie ist das, was Musik atmen lässt.
Doch dieser Atem fehlt heute immer öfter. Natürlich nicht überall, nicht in jeder Interpretation. Aber auffallend häufig – gerade dort, wo technische Brillanz über alles gestellt wird. Besonders im Soloklavierspiel, wo das Virtuose leicht zum Selbstzweck wird. In den sozialen Netzwerken kursieren zahllose Kurzvideos junger Pianisten, die mit frappierender Technik beeindrucken – und doch seltsam leer wirken. Auch in Musikhochschulen begegnet einem dieses Phänomen: Die Talente sind unbestreitbar, die Spieltechnik makellos. Und doch fehlt oft das Entscheidende: das Mitgehen im Ausdruck, das Loslassen und Halten, das Warten und Drängen – kurz: der seelische Puls. Stattdessen gleitet vieles in eine schablonenhafte Glätte ab, in der das musikalische Geschehen auf eine mechanische Abfolge reduziert wird. Als wäre Musik nur die Summe ihrer Töne.
Ein Beispiel von heute: Der dritte Satz aus Rachmaninows drittem Klavierkonzert, gespielt von einer jungen Pianistin, technisch brillant, keine Frage. Und doch: Das Stück war kaum wiederzuerkennen. Die Agogik, die diesem Satz seine nervöse Spannung, seine Atemlosigkeit und doch tief verwurzelte Struktur gibt, fehlte. Noch schmerzlicher: Es fehlte das innere Zusammenspiel mit dem Orchester – jenes feine dynamische Wechselspiel, das nicht auf Dominanz, sondern auf Hinhören beruht. Stattdessen wurde mit Kraft und Präzision dagegengehalten, als ginge es darum, sich zu „behaupten“. Aber gerade Rachmaninow 3 ist kein Platz für pianistische Selbstbehauptung – das wäre vielleicht eher beim zweiten Konzert angemessen. Dieses Werk verlangt etwas anderes: die Fähigkeit, sich in ein hochkomplexes Klanggefüge einzufühlen, das sich nur demjenigen erschließt, der bereit ist, innerlich mitzugehen – nicht, sich zu überhöhen.
Ich musste unwillkürlich an Vladimir Ashkenazy denken, dessen Interpretation des Werks in meiner Jugend als Offenbarung galt. Er war ein Wunderpianist, wurde gar als legitimer Nachfolger von Horowitz gehandelt. Und doch war es nicht nur seine Technik, die ihn berühmt machte – es war seine Subtilität, sein tiefes Verstehen der musikalischen Struktur. Das, was heute vielen fehlt: der Mut, weniger sein zu wollen, um mehr Musik zu ermöglichen.
Natürlich ist es verblüffend, dass junge Pianisten heute mit Anfang zwanzig das technische Niveau erreichen, das früheren Generationen als Gipfel erschien. Aber was nützt es, wenn es an der inneren Reife fehlt, an jener Demut, ohne die keine große Interpretation möglich ist? Wer Rachmaninow spielt, ohne das zu begreifen, was zwischen den Noten liegt, verliert das Stück – und das Publikum mit ihm. Denn das engagierte Klassikpublikum weiß sehr wohl, worauf es ankommt. Es merkt, ob jemand Musik macht – oder sie nur ausführt.
In Wahrheit aber ist Musik kein Wettbewerb. Kein Vehikel zur Selbstvermarktung. Kein akustisches Abzeichen für Disziplin. Musik ist eine Gegenwelt. Eine Welt, in der andere Gesetze gelten. In der die Zeit sich dehnt und verdichtet, in der Schweigen Bedeutung hat, in der etwas gesagt wird, das mit Sprache nicht zu sagen ist. Wo es Komponisten gibt, in deren Pausenzeichen eine ganze Welt innehält – und der empfängliche Hörer das spürt. Wer einmal ein ganzes Adagio durchgehört hat – innerlich, mit offener Seele – weiß, dass da etwas berührt wird, das größer ist als bloßes Wissen oder Können.
Diese Dimension ist es, die man vielleicht – vorsichtig – Transzendenz nennen darf. Nicht im Sinne einer jenseitigen Welt, sondern als Erhebung in dieser Welt. Musik kann uns über uns selbst hinausführen, aber nur, wenn wir bereit sind, in ihr mehr zu sehen als Effekt, mehr zu hören als Klang. Wo sich eine Dimension öffnet, die nur über die Musik zugänglich ist. Dann ist sie nicht bloß schön, nicht bloß berührend – dann ist sie wahr.
Ich denke in solchen Momenten oft an Vladimir Horowitz.
Ich hatte das unvergessliche Glück, ihn bei seinem letzten Auftritt in Deutschland live zu erleben – jenes legendäre Konzert in der Hamburger Musikhalle, das seither vielfach zitiert und verhandelt wurde. Es war kein fehlerfreies Konzert. Aber es war – wie so viele seiner Auftritte – ein musikalisches Wunder. Horowitz war gewiss der Inbegriff des Virtuosen, seine Technik war übermenschlich. Aber das allein erklärt seinen Rang nicht. Es war vielmehr diese unfassbare Subtilität, mit der er jedem Stück seinen inneren Atem, seine Tiefenstruktur, seine eigene Wahrheit entlockte – und das bei fast jeder Einspielung oder Aufführung auf eine andere, aber immer gültige Weise.
Ich erinnere mich an viele solcher Momente. Wie oft habe ich bei einer Horowitz-Aufnahme gedacht: Das ist es! So muss dieses Stück klingen, so und nicht anders. Und dann hörte ich eine andere Aufnahme desselben Werks von ihm – völlig anders gespielt, anders gewichtet, anders geatmet – und dachte wieder: Das ist es! Und ich meinte es jedes Mal.
Früher wurde oft gefragt, wer dem 20. Jahrhundert eher die „Virtuosenkrone“ aufzusetzen verdiene – Horowitz oder Rubinstein? Ich habe größten Respekt vor Rubinstein, seine Natürlichkeit, sein Klangideal, seine Nähe zu Chopin. Aber heute, mit dem Abstand der Jahrzehnte, erscheint mir Horowitz als der ungleich größere Musiker. Nicht nur, weil sein Repertoire breiter war – sondern weil er mit einem intuitiven und intellektuellen Feingefühl spielte, das keine Schule, keine Dressur, kein Ehrgeiz jemals erzeugen kann. Es war eine Gnade – und ein Zeichen dafür, was Musik sein kann, wenn sie nicht bloß ausgeführt, sondern verstanden wird.
Ich höre selten historische Aufnahmen – doch auf einige von Horowitz kann und will ich nicht verzichten: Brahms’ zweites Klavierkonzert, Tschaikowskys erstes, jeweils unter Leitung seines Schwiegervaters Toscanini – und natürlich die berühmte Aufnahme von Liszts h-Moll-Sonate. Für mich sind das zeitlose Monumente, Zeugnisse eines Musikverständnisses, das weit über bloßes Können hinausgeht. Schon als junger Mann hatte Horowitz diese Dimension erreicht: Als Kind spielte er Skrjabin vor, wurde nach einem kurzfristigen Einspringen in Hamburg über Nacht weltberühmt, war geschätzt und bewundert von Persönlichkeiten wie Toscanini und Rachmaninow. In einem tieferen Sinn war er – so scheint es – der reichste Mann der Welt.
Eine kleine Anekdote, die Izhak Perlman einmal erzählte, berührt mich bis heute: Er kam mit einer jungen Geigenschülerin in einen Saal, in dem Horowitz gerade einen Flügel ausprobierte. Aus dieser zufälligen Begegnung entstand eine fröhliche kleine Lehrstunde über das Musikmachen – ein Geschenk, das Perlmans Schülerin wohl nie vergessen wird.
Solche Augenblicke gehören für mich zu den kostbarsten, die das musikalische Leben bereithält. Und sie verweisen auf eine Wahrheit, die sich nicht in Fingersätzen oder Partiturkenntnis erschöpft. Musik, das ist für mich: seelisches Maß, gelebte Transzendenz, atmendes Verstehen.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich dieses Phänomen an Horowitz’ Interpretationen der Skrjabin-Etüde op. 8 Nr. 12 in dis-Moll – einem Stück, das wie kaum ein anderes alles verlangt, was Agogik, innere Dynamik und kontrollierte Emphase ausmacht. Diese Etüde ist keine bloße Bravournummer, sondern ein musikalischer Vulkan: glühend, eruptiv, emotional geladen – und zugleich so heikel balanciert, dass jede falsche Gewichtung, jede Überbetonung, jedes unorganische Zögern oder Antreiben den ganzen musikalischen Organismus zum Einsturz bringen kann. Ein zu stark gezogener Taktteil – und das Stück ist dahin.
Horowitz hat dieses Stück unzählige Male gespielt: als Zugabe in Hamburg, als Triumph in Moskau, auf Studioeinspielungen, in Privataufnahmen – und immer war es etwas anders. Mal glühender, mal kontrollierter, mal mit eruptiver Gewalt, mal mit schmerzhafter Innerlichkeit. Aber nie beliebig. Nie technisch poliert auf Kosten des Ausdrucks. Und immer – im tiefsten Sinne – richtig.
Dass jemand über Jahrzehnte hinweg denselben musikalischen Text so unterschiedlich und doch so stimmig gestalten kann, ist mehr als nur künstlerisches Können. Es ist Ausdruck eines Verständnisses, das sich nicht an fixen Parametern orientiert, sondern an einem inneren Maß, das von Satz zu Satz neu erspürt wird. Horowitz hatte dieses Maß. Vielleicht wie kaum ein anderer.
Veröffentlicht am 30.05.2025 von UdoEn
