
Es war einer dieser winzigen musikalischen Aha-Momente, wie sie einen manchmal unversehens überfallen – und dann nicht mehr loslassen. Ich saß vor vielen Jahren mit Partitur auf dem Schoß, die Aufnahme lief, die Ohren waren geschärft, der erste Satz der Eroica stürmte heran – und plötzlich blieb ich hängen. Oder besser gesagt: etwas blieb aus.
Die Wiederholung der Exposition.
Beethoven hatte sie doch eindeutig vorgeschrieben. Nicht nur das: Er hatte sogar ein paar Takte eigens dafür geschrieben, mit denen man elegant vom Ende der Exposition wieder an deren Anfang zurückspringen kann („1“ im Partiturauszug) und dann nach der Wiederholung ohne diese Takte direkt weiter in die Durchführung springt („2“ im Partiturauszug). Ein Scharnier, ein funktionaler Übergang – und doch kein Selbstzweck. Denn hier wiederholt sich nichts einfach. Hier wird das Material noch einmal neu durchmessen, aus einer veränderten inneren Perspektive, mit der Kenntnis des Kommenden. Wiederholung ist nicht Reproduktion, sondern Vertiefung. Und doch: sie unterbleibt.
Warum?

Ich habe im Lauf der Jahre viele Aufnahmen und Aufführungen dieser Sinfonie gehört. Alte, neue, behäbige, heroische, sachliche. Und immer wieder ist es mir begegnet: Diese verdrängte Wiederholung, dieses vermeintliche Detail, das doch ein ganzes musikalisches Weltverhältnis offenlegt.
Die Abkürzung als Programm?
Wird die Exposition nicht wiederholt, ist das kein Unfall. Es ist eine Entscheidung – ästhetisch, praktischer Art oder schlicht Ausdruck des Zeitgeistes. Vielleicht fürchten manche Dirigenten um die Geduld ihres Publikums. Vielleicht glauben sie, man „kenne“ die Musik ja ohnehin schon – ein gefährlicher Gedanke. Oder sie empfinden die Wiederholung als überflüssig, als konventionelles Relikt.
Doch Beethoven war kein Konventionalist.
Schon gar nicht in der Eroica, diesem revolutionären Werk, das alle Dimensionen und Konventionen bisheriger Sinfonik sprengte. Nichts an ihr ist bloßes Schema, nichts nur Pflicht. Die Wiederholung der Exposition war für ihn nicht Etikette, sondern Spannungserzeugung. Das wiederholte Hören schärft die Wahrnehmung. Und es verändert den Gang der Zeit im Satz.
Ohne sie ist der Satz frontlastig, verliert Balance und Entwicklungspotenzial. Die Form verschiebt sich – nicht aus Absicht, sondern aus Unwillen.
Wiederholung und Widerstand
Ich bin überzeugt: Die Verweigerung der Wiederholung sagt mehr über uns aus als über Beethoven. Sie passt in eine Zeit, in der die Skip-Taste näher liegt als das erneute Hinhören. Wiederholung wird verwechselt mit Langeweile, nicht mit Vertiefung.
Wir wollen durch, nicht hinein.
In diesem Sinne ist die Expositionswiederholung eine Form von Widerstand gegen unser Gegenwartshören. Sie sagt: Halte inne. Höre noch einmal. Höre besser.
Kretzschmar lässt grüßen
In Thomas Manns Doktor Faustus hält der Musiklehrer von Adrian Leverkühn, Wendell Kretzschmar, bekanntlich einen Vortrag über die Frage, warum Beethovens letzte Klaviersonate keinen dritten Satz hat. Eine scheinbar banale Beobachtung, die als Thema eines Vortrages oder gar einer Vorlesung erst einmal befremden mag – aus der Kretzmar ein ganzes Klangweltverständnis ableitet. Vielleicht ist das hier ein Kretzschmar-Moment. Auch ich frage:
Warum wird die Exposition der Eroica so oft nicht wiederholt?
Nicht um den Buchstaben, sondern um den Sinn zu retten. Und meine Erfahrung sagt mir: Je verblüffender die Fragestellung (sie darf natürlich nicht gänzlich unsinnig sein) desto tiefer dringt man über einen solchen Seitenschacht in das musikalische Gebirge ein. Was natürlich ein Gebirge und nicht einen kleinen Hügel voraussetzt – was aber bei der Eroica und der Sonate Nr. 32 ja außerhalb jeder Diskussion steht.
Die Takte, die fehlen
Ich gebe zu: Man kann die Eroica auch ohne Wiederholung bewundern. Man kann sie lieben, erschauern, sich in ihr verlieren. Aber jedes Mal, wenn ich merke, dass dieser Satz zu früh weiterzieht, denke ich an Beethovens sorgfältig komponierten Übergang. Diese wenigen Takte, die allein dafür da sind, dass wir zurückgehen dürfen.
Und ich bin sicher, dass wir etwas verlieren, wenn wir es nicht tun.
